Mittwoch, 11. Juni 2014

Telleranalyse - "Bioabfall aufgetischt"


Bei dem im Folgenden behandelten Werk handelt es sich um eine Farbfotografie, dessen Künstler, Titel, Erscheinungsjahr- und Ort sowie Originalgröße mir unbekannt sind.
Die Fotografie liegt im Querformat mit dem Seitenverhältnis 4:3 vor. Sie zeigt eine zentrale und parallele Aufsicht auf eine ebene Fläche, deren Grund mit einem aufgefalteten Zeitungspapier ausgelegt ist. Sehr mittig darauf sind fast kreisförmig Essensreste platziert, die sich vermischen, überlagern und das Zeitungspapier innerhalb dieser Form fast vollständig bedecken. Außerhalb dieser zentralen Anhäufung lassen sich einzelne Essensreste, Krümel und Flecken erkennen. Somit lässt sich das Bild in drei Ebenen aufteilen: den Hinter-/Untergrund des Zeitungspapiers, den Mittelgrund durch die außerhalb der zentralen Form liegenden Teile sowie den Vordergrund des sich scheinbar leicht in die Höhe stapelnden Bergs, wobei die Draufsicht eine genaue dreidimensionale Vorstellung verunmöglicht.
Inhalt - Nahrungsmittel - und Komposition der Fotografie erinnern an ein Stilllebenmotiv.

Auffällig ist eine Spannung zwischen Ordnung und Chaos: das Zeitungspapier ist durch seinen Aufdruck von Schriftzügen im Blocksatz sowie von rechteckigen Fotografien in relativ gerade horizontale und vertikale Linien gegliedert. Außer einer Artikelüberschrift in der linken oberen Bildhälfte mit den Worten „... Claims More Books Coming“ (erstes Wort unleserlich), lassen sich die abgedruckten Texte nicht definieren. Auch die unter der Überschrift abgebildeten Schwarzweiß-Fotografie ist zur Hälfte mit Essensresten bedeckt und somit kaum erkennbar. In der rechten unteren Bildhälfte ist eine sw-Portraitfotografie im Passbildformat einer Frau zu sehen. Gleichformatige, jedoch von der oberen bzw. rechten Bildkante abgeschnittene Portraits sind in der rechten oberen Bildhälfte festzumachen. In dieser lässt sich auch eine weitere Abbildung erahnen, die jedoch von Blattgrün bedeckt ist.
Dieser Ordnung des Untergrunds entspricht auch die zentrale Platzierung des Essensberges in der Bildmitte, der sich wie bereits gesagt annäherungsweise durch eine Kreisform beschreiben lässt. Teilt man das Bild durch die horizontale und vertikale Mittelachse entstehen vier Bildteile, die ähnlich ausgefüllt sind, nämlich jeweils in dem zur Mitte gerichteten Teil mit einem Ausschnitt des Essensbergs und der restliche Teil mit Zeitung bzw. vereinzelt liegenden Essensresten. Es entsteht ein Gleichgewicht zwischen der oberen rechten Bildhälfte, in der der Viertelkreis nicht vollständig mit Essen ausgefüllt ist, und der unteren linken Bildhälfte, in der das Essen über jenes Kreisviertel hinausgeht. Zudem befinden sich in jeder Bildhälfte auf der von mir definierten Mittelebene etwa gleichermaßen viele Essensreste außerhalb des Kreises: oben links vermutlich Kartoffelreste sowie Maiskörner und Stücke von Roter Bete, oben rechts einige gleichermaßen rote Krümel sowie ein bereits erwähntes grünes, verwelktes Blatt, unten rechts einige Cocktailtomaten sowie ein größeres Blattbündel, das den zentralen Essensberg berührt und in der unteren linken Ecke sind rote Flecken auf dem Zeitungspapier auffällig. Dunklere, vermutlich durch Fett oder Feuchtigkeit erzeugte Flecken sind in allen vier Bildhälften zu erkennen.
Diese formale Ordnung wird mit einer farblichen und inhaltlichen Unordnung kontrastiert:
die bunte, zufällig erscheinende Stapelung der Essensreste hebt sich stark von dem schwarz-weißen Untergrund des Zeitungspapiers ab. Jenes verblasst in der oberen Bildhälfte zunehmend bis zum fast vollständigen Verschwinden der Textsegmente, was auf eine starke Belichtung beim Fotografieren zurückzuführen ist.
Die Essensreste zeigen hauptsächlich Farbabstufungen verschiedener Gelb- bis Braun- und Rot- bis Dunkelviolett-Töne; Farbakzente werden durch die grünen Blattreste sowie eine einzelne – deshalb auffällige – grüne Erbse gesetzt. Nicht alle Essensreste können definiert werden, da es sich hauptsächlich um bereits benutzte, verarbeitete Nahrung handelt, die nicht mehr in ihrem Urzustand zu sehen ist. Für mich erkennbar sind Reste von Gemüse - kleine Tomaten, Champignons, Radieschen, Mais Erbse, Paprika, Kartoffel -, Obst - Zitronen, Orangen, Pflaumen, Kirsche –, Blättern – vermutlich Kräuter - und verarbeiteten Produkten – gekochter Reis, Toast, Brötchen, Käse oder Butter - . Die meisten abgebildeten Lebensmittel sind bereits zerschnitten, zerhackt , zerquetscht oder zerstampft. 
Zwei Champignons, ein Radieschen, eine Kartoffel, eine Pflaume und sechs Cocktailtomaten, bilden unter anderem die wenigen geometrischen Formen (Kreis und Oval). Größere Farbflächen in Hellgelb entstehen außerdem durch die annähernd rechteckige Toastbrotscheibe an der oberen Bildkante sowie das ebenfalls farb- und formgleiche Käse- oder Butterstück im unteren rechten Bildteil.
Auffällig ist eine längliche, zur linken Seite geneigte diagonale Form, die an einen Knochen erinnert, und auf der linken Bildhälfte innerhalb des Kreises einen großen Platz einnimmt. Undefinierbar bleiben für mich vor allem dunkelrote Segmente mittig des Haufens sowie rosa-bräunliche Stücke im rechten Teil, die evtl. (rohes) Fleisch abbilden könnten.
 
Konzentriert man sich auf diesen zentralen Bildteil, in dem der Betrachter versucht die einzelnen Lebensmittel zu definieren, wird dessen Umraum, der von mir definierte Mittelgrund, umso interessanter: hier lassen sich alle Farbigkeiten wiederfinden; zudem wird der Blick auf das darunter liegende Zeitungspapier gelenkt.
Die Konstellation der Lebensmittelreste auf Zeitungspapier erinnert an Bio-Abfall, der häufig in einem mit Zeitungspapier ausgelegten Abfalleimer gesammelt wird. Jedoch zeigt die Aufsicht, wie bereits erwähnt, anstelle des Blicks in einen Abfalleimer jenen auf eine ebene Fläche mit sauber ausgelegten Zeitungspapier, wodurch eine Tischplatte assoziiert werden kann. Die kreisförmige Anordnung der Nahrungsmittel impliziert eine gedankliche Verknüpfung zu einem Teller. Würden die Nahrungsmittel nicht benutzt erscheinen, könnte es sich formal gesehen also auch um ein zubereitetes Gericht handeln, indem sich die verschiedenen Bestandteile ebenfalls meist vermischen und eine bunte Farb- und Formkomposition ergeben. Letztlich ist in dem Essenshaufen eigentlich alles zu finden, was eine reichhaltige Mahlzeit ausmacht. Aus diesem Gedankengang heraus ergibt sich die Frage, wieso das Essen wie Abfall erscheint – schließlich sind keine Spuren von Fäulnis erkennbar und somit seien die Reste (abgesehen von den undefinierbaren Teilen, die evtl. Knochen und Fleisch darstellen könnten) sicher noch essbar.
Könnten diese Essensreste, wie der Mensch sie häufig unachtsam und aus Überfluss wegwirft, nicht einen anderen Mensch noch satt machen? Warum wird in unserer Gesellschaft so viel Essen unnötig weggeworfen? Indem das Bild der Essensreste einer Tellerfotografie beispielsweise eines Rezeptbuchs analog erscheint, erhalten jene einen höheren Wert und treten aus der Abfallthematik heraus. Eine Nahrungsmittelverschwendung findet „über den Tellerrand hinaus“ nicht nur im häuslichen Kontext statt, sondern das Bild assoziiert auch die Thematik und Praxis des Containerns.


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